Bilderflut in Zeiten der digitalen Reproduzierbarkeit | KUNST MAGAZIN 19.01.12 08:00 Publiziert am 19. Januar 2012 von Steffi Weiss
Atelier Susanne Wehr
Alle 20 Minuten werden 2.716.000 Fotos bei Facebook hochgeladen. Im Jahr 2010 waren 36 Milliarden Bilder b Facebook eingestellt. Bei der Foto-Community Flickr wurden im September 2010 fünf Milliarden Bilder gezählt. Pro Minute werden auf dieser Seite über 3000 Fotos hochgeladen und 130 Millionen im Monat gepostet. Wohin mit den Bildern?
Mit dem Einsatz der digitalen Möglichkeiten für die Fotografie, der kleinformatigen Digitalkamera, den Handys und Multimediageräten mit Fotofunktion, ist das Fotografieren kinderleicht und zu einer weltweiten Manie, zu einem Massensport geworden. Der Umgang mit den Abbildungen hat sich verändert. Das Foto wird in erster Lin als Kommunikationsmittel verwendet, als eine Art Zeuge eines Teils unseres menschlichen Tun und Seins. Sekündlich werden vermeintliche Augenblicke als Bild festgehalten. Umgehend wird das Abbild losgesandt, als Zeugnis jenes Blickmomentes, um sich mitzuteilen, die Empfänger daran teilhaben zu lassen. Dabei zu sein, mit der Absicht, dem Tun eine Bedeutung zu verleihen. Doch welche Bedeutung hat dieses Tun? Welche Bedeutung haben Fotos in unserer Gesellschaft?
Bilderflut in Zeiten der digitalen Reproduzierbarkeit | KUNST MAGAZIN 04.08.12 07:26
Susanne Wehr, 2010, aus dem Projekt personal-views „sunday 3pm“ Fotografie auf der Website des Projektes
Als die Analogfotografie Einzug hielt und seit 1924 mit der Kleinbildkamera das beliebige Produzieren und Reproduzieren von Fotografien möglich geworden ist, verwies Walter Benjamin 1935 in seiner Schrift über “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit” darauf, dass die Möglichkeit, mit technischen Hilfsmitteln die Welt abzubilden, die Künste verändern wird. Künstler experimentierten mit dem Ablichten der Wirklichkeit, die Fotografie wurde als Kunstform anerkannt. Doch die Analogfotografie wurde ab den 1990er- Jahren von der Digitalfotografie überholt. Das Präsentieren der Bilder wurde durch digitale Medien erweitert. Die Auseinandersetzung mit Fotografien hat sich verändert.
Unverändert ist das Raster der Bildanalyse und das Ermitteln der Zuordnung von Bildern, die erst im sogenannten Kontext ihre volle Wahrhaftigkeit entfalten, das Erinnern für den Zeitraum anregen, in dem sie präsentiert und zur Diskussion gestellt werden, um danach in einem weiteren Archiv als Zeitdokument zu verschwinden. Wer leistet diese Arbeit neben prall gefüllten Archiven der Institutionen?
Gigantischer Bilderfundus für Künstler
Susanne Wehr, 2010, Aus der Serie „Sightseeing“, Installation mit Diashow, Ansichtskarten und Texten von Urlaubsgrüßen
Während der Amateurfotograf kaum noch nachkommt, Fotoalben, ob analog oder digital, anzulegen, gibt es Künstler, deren Faszination genau der Fülle dieses gigantischen Bilderfundus gilt, die daraus schöpfen, damit arbeiten. Es ist das Motiv ihrer Sammelleidenschaft für anonyme Fotos, die sie in eigens dafür angelegten Archiven speichern und erfassen. Ein allumfassender Anspruch an ein Fotoarchiv ist wohl kaum noch möglich. Es können aber Muster anhand von Klassifikationen abgelesen, nachgewiesen und als Phänomen des gesellschaftlichen Verhaltens bei Abbilden untersucht werden.
Ein Künstler und Sammler, der sich aus der vorhandenen Bildermasse bedient und banale Alltagsfotos für seine Konzeptkunst verwendet, ist Hans Peter Feldmann mit seinem Archiv. Er schöpft aus seiner Sammlung von geknipsten und selbst gefertigt Bildern. Seit 1968 veröffentlicht er Hefte und Bücher mit Serien von alltäglichen Dingen und Handlungen und schafft erneuerte Bildbedeutungen. Mit einem ähnliche
Ansatz begegnet die konzeptionell mit Fotografien arbeitende Künstlerin Susanne Wehr dem Schwund durch Fülle. Auch sie bedient sich an vorhandenen geknipsten Bildern, die sie in ihrem
Archiv „volks-bild“ sammelt und damit auf verschiedenen Ebenen arbeitet.
Wehrs umfangreiche Sammlung besteht aus anonymen Amateurfotografien, die sie auf Flohmärkten aufspürt oder im Internet erwirbt, methodisch nach Kategorien erfasst und digitalisiert. Ihre Vorliebe gilt den Dias. Die Archivbestände sind Basis und Beleg ihrer Analysen, Deutungsarbeit und Schöpfung von Bedeutung durch neu inszenierte Zusammenhänge. Dafür wählt sie Fotos aus den Kategorien des Archivs thematisch aus und arrangiert diese. Im digitalen Archiv “volks-bild” kann der Besucher sich durch Projekte und monatliche Serien klicken, in thematischen Ausstellungen gerahmte Bilder der erstellten Fotodrucke betrachten und bei einer Performance nostalgische Diashows erleben, die mit fiktiven Bildgeschichten gekoppelt und wiederum digital beliebig oft aufrufbar sind.
So stellte sie zum Beispiel mit dem Projekt “Bildstörung” eine Serie ausgewählter anonymer Diabilder aus den 1950er-Jahren zu einer Show zusammen, die deutsche Familien im Urlaub zeigen.
Der Medienphilosoph Rainer Trotzke alias Kurt Mondaugen dichtete zu den
einzelnen Bildmotiven pfiffige mitreißende Geschichten. Vergessene Menschen
werden aus der Anonymität gerissen, zu Protagonisten ihrer Zeit stilisiert und vor
unseren Augen im damaligen Urlaubsalltag lebendig, der sich nicht vom heutigen
unterscheidet. Erinnerungen werden wach. Wenn auch Design und Mode auf den Dias auf eine vergangene Zei verweisen, so posiert der Mensch nicht anders als heute vor selbigen Sehenswürdigkeiten und teilt mit “ich bin gewesen”.
Der Versuch, die Zeit zu erfassen
Mit der Projektbeteiligung “personal view” bei “Mutation III”, die im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie stattfand, ist das Archiv “volks-bild” einem breiten Publikum in Europa bekannt geworden. In der Ausstellung in der Berlinischen Galerie untersuchte Wehr die visuellen Inhalte ausgewählter Diafotografien nach Bildmustern bei der persönlichen Selbstdarstellung, die der heutigen Digitalfotografie zugrunde liegen könnten. Gleichfalls ist das Projekt auf virtueller Ebene nachzuvollziehen.
Susanne Wehr, 2010, Aus der Serie „Sightseeing“, Installation mit Diasho Ansichtskarten und Texten von Urlaubsgrüßen
BG_01 Foto Fabian Lefelmann, Ausstellungsansicht des Projektes „personal-views“, 2010, Mutations III – Monat der Fotografie, Berlinische Galerie
Ein Link der ausgewählten Dias führt zu automatisch generierten Digitalfotografien bei Flickr und Google mit gleichen Bildinhalten und – strukturen. Bei der Gegenüberstellung von damals und heute eröffnen sich verblüffende Parallelen. Wiederum eröffnen Texte einen neuen Blickwinkel zu den Bildern.
Mit Hilfe von Fotos wird versucht, Zeit zu erfassen und Erinnerungen zu wecken. Das Zeitgeschehen kann mit Fotos dokumentiert, Spurensuche ermöglicht und das kollektive Gedächtnis belegt werden. Sowohl bei Feldmann und wie auch Wehrs Präsentationen erscheinen die Archivbilder in einem neuen Glanz. Die Künstler führen vor, dass
Bildinhalte beliebig austauschbar sind. Demnach scheinen Bilder keine Bedeutung zu archivieren und zeigen, dass Interpretationen sich synchron mit dem Kontext, dem Raum, dem Individuum und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern.
Nicht nur bei Amateurfotografen quellen die Archive über, auch die Archive von Institutionen sind voll mit Fotografien des letzten Jahrhunderts. Nur ein Bruchteil der Aufnahmen werden von ambitionierten Historikern gesichtet, entdeckt und wieder ans Tageslicht geholt. Sekündlich entstehen neue Bilder. Wer macht sich die Mühe und sichtet die Bilder, um sie erneut der visuellen Kommunikation zuzuführen? Auch hier gilt: Fotografie macht für einen Moment einen Weltausschnitt sichtbar, verschwindet im Archiv und wartet dort auf ihre Wiedererweckung. Nach Benjamin sollte das fotografische Bild nicht der Erinnerung, sondern der Kommunikationsgesellschaftlicher Realität dienen.
Feldmann und Wehrs Fotoarchive leben von geschaffenen Fotografien des Volkes, die bereits auf der Bilderhalde lagerten. Beide entreißen mit ihrer Lichtbilder-Wiederverwertungsarbeit die Fotos noch einmal dem Bildtod, dem Vergessen und regen die Kommunikation erneut an. Vielleicht sind es ja die Künstler, die mit ihren Archiven und Sichtweisen die jeweils gesellschaftlich entsprechende Form des Bewahrens finden, die Säulen des Erinnerns zumindest zeitweise manifestieren.
3 Antworten auf Bilderflut in Zeiten der digitalen Reproduzierbarkeit Dina Sun sagt:
Januar 20, 2012, 09:29
Hallo Steffi
ich möchte Dir Danken für dein wunderschön geschriebenes…ich bin mit Liebe berührt und fühle ein träumendes-strahlendes Herz ebenfalls ein großes Dankeschön an deine Begabung die Kunst mit Liebe zu sehen!Grüße Dina
Steffi Weiss sagt: Januar 20, 2012, 12:30
Liebe Dina,
ein herzliches Dankeschön für dieses beflügelnde Kompliment! inspirierende Grüße Steffi
Mau, Brigitte sagt: Januar 21, 2012, 11:42
Liebe Steffi, wie schön ist es zu lesen, dass Kunst sich in den Alltag mischt. Die alltäglichen Fotos oder geknipste Bilder zeigen die Veränderung und das Gleiche in der Zeit. “Damals war es, weisst du noch” – “Wo ist die Zeit geblieben” – “Tatsächlich, da
war ich auch verreist”. Man fühlt sich angesprochen, an sein ICH erinnert. So viel Erlebtes in all den Jahren. Eingefangen in Fotografie.
Du hast es zielsicher erkannt und wunderbar aufgeschrieben. Lieben Gruß Brigitte