Liebe 1.0 – eine binäre Kunst? | KUNST MAGAZIN 16.10.12 16:07
Publiziert am 16. Oktober 2012 von Steffi Weiss
Binär, aus dem Lateinischen „bini“ abgeleitet, bedeutet „je zwei“. Die Informatik verwendet den Binärcode. Damit können Nachrichten durch Sequenzen von den Symbolen 1 (wahr) und 0 (falsch) dargestellt und hochkomplexe Algorithmen realisiert werden.
Seinen Ursprung hat der Binärcode in der Lochkarte, die ihren ersten Einsatz 1805 im Kunsthandwerk hatte. In Seidenwebereien wurde nach einem Speichermedium für die Übertragung von immer kunstvolleren Mustern und Farben für die Webstühle gesucht und schließlich die Lochkartenweberei erfunden. Dieses Zusammenspiel von Kunsthandwerk und Technik führt zur Quelle der Digitalisierung.
Heute schreiben wir das Jahr 2012. Der digitale Fortschritt hat uns eine weitere Dimension eröffnet, die virtuelle Welt. Angekommen im interaktiven Web 2.0. speichert der Prosument, also der Verbraucher der gleichzeitig Produzent ist, seine Daten nunmehr in virtuellen Wolken. Seit der Erfindung der elektronischen Rechenmaschine um 1945 hat sie sich zu einem unentbehrlichen Kommunikationsinstrument entwickelt. Aus den urtümlich monströsen Maschinen sind Smarthphones im Hosentaschenformat geworden, die virtuell durch die reale Welt leiten.
Joseph Weizenbaum, der in den 1950er-Jahren mit seinem Computerprogramm „Eliza“ den Turing-Test bestanden hatte, mahnte in einem Interview 2004:
„Jeder ist immer erreichbar. Die ganze Welt beschleunigt sich, alles ist dringend und wo alles dringend ist, ist nichts mehr dringend, und damit schlittern wir in eine Bedeutungslosigkeit hinein“. Dennoch wird weiter fieberhaft nach Möglichkeiten gesucht, Raum und Zeit zu überlisten, um noch schneller kommunizieren zu können. Intelligente Computer werden entwickelt, die möglichst schon von Kindern intuitiv bedient werden können. Bei dieser Suche ist seither auch die Kunst, insbesondere wenn sie das Prozessuale im Leben darstellt, eine Inspirationsquelle für die Technik geworden. Microsoft hat eingeladen, unter diesem Aspekt die Installation „LoveLetters_1.0“ von David Link auf der dOKUMENTA 13 genauer in Augenschein zu nehmen.
In seiner Forschung befasst sich der Medientheoretiker und Künstler David Link mit dem Verhältnis von Mensch und Maschine. Er verfolgt die Entwicklung der Sprache, die mit Rechenmaschinen generiert wurde, bis zu ihren Anfängen zurück. Dabei stieß er auf ein ungewöhnliches Ereignis. Vor 57 Jahren entdeckten Informatikstudenten der Manchester University am schwarzen Brett maschinenschriftliche mit M.U.C unterzeichnete mysteriöse Liebesbriefe. Sie fanden heraus, das M.U.C ein Akronym ist, das sich aus den Anfangsbuchstaben des legendären ersten programmierbaren „Manchester University Computer“, der 1948 an ihrer Universität in Betrieb ging, zusammensetzt. Er war der Prototyp für den Manchester Mark 1 der in Serie ging. Christopher Strachy, einer der ersten Softwareentwickler, erfand dieses emotionale Textprogramm für Liebesbriefe, das er mit dem Zufallsgenerator verknüpfte.
Für seine Installation „LoveLetters_1.0“ rekonstruierte Link das erste Computerprogramm dieser Art und baute die erste programmierbare Rechenmaschine Farranti Mark 1 bzw. Manchester Mark 1, auf der das Programm damals lief, nach. Die monströse Rechenmaschine hatte weder Bildschirm noch Speicher – das kam erst später. „Eigentlich wurde schon per Fernschreiber „getwittert“, so Link. „Bei den ersten Computermaschinen erschien dann die gesandte Nachricht direkt beim Adressaten auf dem Bildschirm, einen Speicher gab es anfänglich nicht …“.
Zur Darstellung der einzelnen erzeugten Wörter baute Link die notwendigen 15 Kathodenstrahlröhren so um, dass die Frontfläche mit einem Durchmesser von ca. 10 cm als jeweiliger Bildschirm dient. Am Fuße der Installation zeigt ein Monitor den aktuellen gesamten Text eines Liebesbriefes. Wäre die dazugehörige Fernschreibmaschine, die in der Vitrine steht, angeschlossen, könnten die Briefe ausgedruckt werden. Wie damals am schwarzen Brett der Manchester University hängen Textbeispiele der herzerweichenden Liebesbriefe an einer Tafel. Am Monitor können wir verfolgen, wie der Computer schreibt:
„Darling Jewel
My Wistful Devotion Impatiently Hopes
for Your Little Little Heart.
You Are My Erotic Lust. : My Sympathetic Devotion.
You are my dear Fanct. : My Lovable Enthusiasm.
Yours Curiously
MUC“
Einer von unzähligen Liebesbriefen, die das Textprogramm dieser Maschine fortlaufend generiert. Ein Computer der Liebesbriefe schreibt? Kann er fühlen und ist von der Liebe infiziert? Oder war der Entwickler im Liebesrausch, als er das Programm schrieb, und kopiert nun die Maschine seinen Erschaffer? Wird die 1 (Wahr) dem Erschaffer oder der Maschine zugeordnet? Wer von beiden ist hier die 0 (Falsch)? Deuten die Programmierer Strachy und Link auf die Frage nach den möglichen Formen von künstlicher Intelligenz hin?
Auf der dOKUMENTA 13 ist in der Orangerie die klobige urtümliche Maschinenkonstruktion mit ihrem romantischen Ausdrucksvermögen gegenüber von Konrad Zuses Rechenmaschine Z3, dem ersten Computer der Zuse AG der in Serie ging, platziert, und korrespondiert auf diese Weise mit ihr. Wie aber wirken die Gegensätze von Maschinenkonstruktionen und emotionalen Liebesschwüren auf den heutigen Betrachter der Smarthphone-Generation? Im Sinne von Microsoft könnte die Frage aufblitzen: Handelt es sich hierbei um eine archaische App, die romantische Liebesdichtungen für das Smarthphone produzieren kann? Ein Fall für die Liebe 1.0? Wahr oder Falsch?
Wir bedanken uns bei Microsoft für die Organisation der Pressereise.